Erinnerungen an die europäische Revolution von 1848
Rüdiger Hachtmann
Keine Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts war so ausgeprägt gesamteuropäisch wie die von 1848/49. Traditionsbildungen und Gedenkkulturen, die sich in den folgenden Jahrhunderten um dieses Großereignis bildeten, waren in den verschiedenen europäischen Staaten jedoch höchst unterschiedlich. Die „transkontinentale Lawine“ (Hachtmann 2025), die über Europa hinwegfegte, wurde trotz aller Gemeinsamkeiten erst „im Rückblick nationalisiert“ – und mit ihr Traditionsbildung und Erinnerungskultur (Clark 2023: 9f.).
I. UNGARN
Ein anschauliches Beispiel dafür, welch hohen Stellenwert Ereignisse in den Revolutionsjahren für die nationale Traditionsbildung gewinnen konnten, ist der Mythos des 15. März 1848 in Pest und Buda, die damals noch nicht zu einer Stadt vereinigt waren. Nachdem sie die Nachrichten von der Revolution am 13./14. März in Wien erreicht hatten, verlangten junge Intellektuelle um den Dichter Sandor Petöfi in Zwölf Punkten u.a. ein von Wien unabhängiges Ministerium, ein eigenes Parlament, den Abzug sämtlicher österreichischer Truppen und den Aufbau einer eigenständigen Nationalarmee.
Danach war der ungarische Staatsverband, der die gesamte riesige östliche Hälfte des Habsburgerreiches umfasste, de facto ein unabhängiger Staat – bis Anfang August 1849, als die ungarische Revolution schließlich niedergeworfen wurde.
In den folgenden eineinhalb Jahrhunderten wurde der 15. März 1848 zum zentralen Baustein des ungarischen Nationalbewusstseins. 1882 wurde in Budapest ein Denkmal zu Ehren Petöfis errichtet und fortan bezogen sich die unterschiedlichsten politischen Strömungen positiv auf den 15. März. Ab 1956 gilt dieses Datum als ungarischer Nationalfeiertag – über die verschiedenen politischen Regime hinweg. „Ohne 1848 konnte niemand nach 1848 Politik machen“(Erdödy 2000: 159).
Zum Mythos wurde der 15. März 1848, weil sich um ihn ein weiterer Mythos ranken ließ: die „Befreiung von Fremdherrschaft“: Damit ließen sich der sozial-emanzipatorische Inhalt der Revolution und die scharfen inneren Konfliktkonstellationen ausblenden. Der Feind stand in jedem Fall außerhalb der Landesgrenzen. 1849, 1956, 1989 und bis in die jüngere Gegenwart war dies – Russland.
II. PREUßEN UND DAS DEUTSCHE REICH
Anders war dies in Preußen und im Deutschen Reich. Weder vor der Reichseinigung 1871 noch im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gelang es, einen geschlossenen Nationalmythos um die Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts zu verankern. Um deren richtige Deutung entbrannte vielmehr ein heftiger Konkurrenzkampf. Markant zeigte sich dies am 50. Jahrestag der Revolution, am 18. März 1898.
An diesem Tag wurde der Reichstag zum Schauplatz einer Debatte, die sich rasch von ihrem ursprünglichen Gegenstand, einer Gesetzesvorlage zur Reform der Militärgerichtsbarkeit, entfernte. August Bebel, Vorsitzender der SPD, ehrte im Reichstag die Märzgefallenen von 1848 und kritisierte scharf die Abwertung ihrer Opfer, indem er deren Einsatz für Freiheit und Reformen verteidigte. Der konservative Abgeordnete Bernhard von Puttkamer-Plauth sah in Bebels emotionaler Rede den Beweis, dass die SPD keine gemäßigte Reformpartei sei, und würdigte stattdessen die königstreuen Soldaten von 1848.
Die gespaltenen Liberalen standen zwischen diesen Fronten. Die Nationalliberalen reduzierten die Revolution auf eine Vorgeschichte der deutschen Einigung von oben, durch Bismarck 1871. Für sie war der Barrikadenkampf des 18. März 1848, „dieser Tag in Berlin“, wie ihr Fraktionsvorsitzender Rudolf von Bennigsen formulierte, „verhängnißvoll und störend“. Auch für die Linksliberalen hatten die Märzrevolutionäre „irrtümlich“ auf den Barrikaden gestanden, aber immerhin „für eine große und gute Idee gekämpft“, so 1898 deren Abgeordneter Munkel (Reichstag 1897/98: 1605 ff.).
Für die Liberalen markierte der 18. Mai 1848, der Zusammentritt der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, den Kontrapunkt zum 18. März. Revolution war für sie wie für die Konservativen kontaminiert. Namentlich die Liberalen begründeten und fokussierten eine Traditionslinie, die ignoriert, dass es ohne die Februar- und Märzrevolutionen die anschließend entstehenden modernen Parlamente nicht gegeben hätte.
Die Spaltung im Gedenken an die Berliner Märzrevolution durchzieht die Geschichte bis mindestens 1948. Schon wenige Monate nach dem Scheitern der preußischen Revolution im November 1848 sperrten die Behörden den Friedhof der Märzgefallenen als den wichtigsten Gedenkort der Hauptstadt ab, um so jegliche Erinnerung an die Märzrevolution zu tilgen (siehe den Beitrag von Susanne Kitschun und Paul Schmitz in diesem Heft). 1850 wurden die Wege zum Friedhof abgesperrt, dieser selbst eingezäunt und mit dichtem dornigen Gestrüpp umgeben.
Magistrat und Ministerium trugen sich sogar mit dem Gedanken, die im Friedrichshain „liegenden Leichen der in der März-Revolution von 1848 Gebliebenen nach den betreffenden Parochial-Kirchenhöfen zu translociren“, wie die Spenersche Zeitung am 9. November 1856 meldete (Czihak 1988: 26). Erst nach massivsten Protesten der Berliner Bevölkerung gaben die Behörden diese Pläne auf.
Für die Berliner Sozialdemokratie wurde der 18. März zum 1. Mai vor dem 1. Mai, an dem alljährlich Zehntausende zum Friedhof der Märzgefallenen pilgerten. 1915 änderte sich das grundlegend und der Besuch des Friedhofs wurde zur Demonstration für ein sofortiges Ende des Krieges. So war etwa auf Kranzschleifen, die auf den Gräbern der Märzgefallenen abgelegt waren, zu lesen: „Der 18. März [1848] ist ein Todestag für Euch. Der 4. August [1914] ein Todestag für uns.“ 1917 hielt eine junge Arbeiterin am 18. März eine Rede auf der kleinen und von der Polizei schon bald auseinandergetriebenen Kundgebung junger Linkssozialisten. Der Radikalpazifismus weiter Teile der Arbeiterschaft, der sich hier Gehör verschaffte, richtete sich nicht zuletzt gegen eine (Mehrheits-)Sozialdemokratie, die den Kriegskurs des Wilhelminischen Kaiserreichs im Sommer 1914 unterstützte.
Bis Ende 1918 war das Gräberfeld im Friedrichshain ein aktiver Revolutionsfriedhof, auf dem auch 29 im November und Dezember getötete Revolutionäre bestattet wurden. Die Trauerfeiern wurden jedes Mal zu politischen Kundgebungen von Zehntausenden. Das war auch der neuen Obrigkeit ein Dorn im Auge. Sie untersagte die Bestattung der vielen hundert Toten, die die blutigen Auseinandersetzungen im Januar und erneut im April 1919 unter aufständischen Arbeitern und in der Zivilbevölkerung forderten, auf dem Gräberfeld im Friedrichshain.
In der Weimarer Republik blieb die Erinnerung an die Märzrevolution gespalten. Die Gedenkveranstaltungen anlässlich des 75. Jahrestages illustrieren dies: Der zum Reichspräsidenten gewählte ehemalige SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert gab sich staatsmännisch – und ignorierte in seiner Festansprache in der Paulskirche im Jubiläumsjahr 1923 den 18. März 1848, den Barrikadenkampf, als die ursprüngliche sozialdemokratische Tradition. Anders die Basis auch der SPD: Insgesamt hunderttausend Berliner sollen an diesem Tag den Friedhof im Friedrichshain aufgesucht haben.
Die Nationalsozialisten konnten mit der auf 1848 zurückgehenden Tradition des Kampfes um Freiheit, Demokratie und soziale Rechte nichts anfangen. Wenn Hitler am 30. März 1938 in Frankfurt a. M. vor 60.000 Zuhörern den „Anschluss“ Österreichs zur Vollendung des „Werkes, für das vor 90 Jahren unsere Vorfahren kämpften und bluteten“ (Domarus 1965: 841) stilisierte, dann zielte er mit diesen Worten auf das „Großdeutschland der Paulskirche“, in der konservative und liberale Abgeordnete der Deutschen Nationalversammlung ein riesiges Deutsches Reich gefordert hatten, in dem polnische, italienische, tschechische und andere nationale Minderheiten nicht die gleichen Rechte wie die Deutschen haben sollten. Die emanzipatorischen Ziele von 1848/49 dagegen standen den Zielen der Nationalsozialisten diametral entgegen – und wurden bis 1945 erinnerungspolitisch ignoriert.
Nach dem 18. März 1948, der in Ost- und West-Berlin als gemeinsamer Feiertag begangen wurde, geriet die Erinnerung an die Märzrevolution in den polarisierenden Sog des Kalten Krieges. Traditionsbildung und Gedenkkulturen blieben, nunmehr staatlich sanktioniert, weiterhin gespalten: Das SED-Regime instrumentalisierte die Revolution von 1848, um die eigene Existenz zu legitimieren, und erklärte sich selbst zum Testamentsvollstrecker der Barrikadenkämpfer. In der Bonner Republik wurde die Märzrevolution weitgehend ignoriert und die parlamentarische Traditionslinie lange Zeit einseitig fokussiert.
III. GEDENKEN AN 1848 IN EUROPA
Während in der Bundesrepublik das Gedenken an die Revolution von 1848/49 bis 1989/90 umkämpft blieb und in Ungarn erinnerungspolitisch instrumentalisiert wurde, nahm die Traditionsbildung zu 1848/49 im übrigen Europa einen wieder anderen Verlauf.
In Frankreich steht die Erinnerung an 1848 bis heute im Schatten von 1789. Zwar wurden die getöteten Aufständischen der Pariser Februarrevolution neben denen der Julirevolution von 1830 am 4. März 1848 in einer Gruft unter der Julisäule beigesetzt. Der vielen tausend Toten der Junischlacht, des verzweifelten Aufstandes der Pariser Unterschichten vom 23. bis 27. Juni 1848, wird jedoch an keinem öffentlichen Ort gedacht. In Italien, einem weiteren der Hauptschauplätze der europäischen Revolution, steht das Gedenken an 1848/49 im Schatten des Risorgimento (der nationalen Einigung Italiens zwischen 1861 und 1866/70), trotz des am 18. März 1895 eingeweihten Denkmals für die Fünf Tage von Mailand auf der Piazza delle Cinque Giornate mit dem der Toten der blutigen Kämpfe gegen das österreichische Militär gedacht wird.
In Berlin wurden die beiden 1848 geplanten Denkmäler – eines im Friedrichshain, ein zweites in Stadtmitte, „Unter den Linden“, vor der heutigen Humboldt-Universität – nicht verwirklicht. In Wien wurde 1864 hingegen auf dem Schmelzer Friedhof (heute Märzpark) ein Obelisk zur Erinnerung an die Toten von 1848 aufgestellt und dieser 1888 zusammen mit den Gebeinen der Märztoten auf den Zentralfriedhof überführt. Gleichwohl hat die Erinnerung an die Revolution von 1848 in der Republik Österreich nicht den vergleichsweisen hohen Stellenwert wie in der Bundesrepublik oder gar in Ungarn.
Die Schweiz wiederum erhielt nach dem Sonderbundskrieg vom November 1847, in dem die liberaldemokratischen über die konservativ-katholischen Kantone siegten, im September 1848 zwar die Verfassung, die in dem Alpenland in den Grundzügen bis heute gilt. Gleichwohl wird die Erinnerung an 1847/48 vom eidgenössischen Gründungsmythos überstrahlt, vom legendären Schwur vom 1. August 1291, der das in seiner tatsächlichen Bedeutung zumeist überschätzte Bündnis der drei Urkantone Uri, Schwyz und Nidwalden besiegelte.
Nach Kroatiens Unabhängigkeit wurde 1990 das Reiterdenkmal des habsburgertreuen Banus Jelačić, das während Titos Jugoslawien entfernt worden war, wieder aufgestellt und symbolisch umorientiert. Die Statue, ursprünglich ein Zeichen der Revolutionseindämmung, dient heute als Symbol des kroatischen Nationalismus und ist gegen Serbien gerichtet.
Historisches Gedenken besitzt mithin immer eine aktuell-politische Dimension. Das allerdings sollte uns nicht daran hindern, gerade in Berlin an die Revolution von 1848/49 zu erinnern – und gleichzeitig deren europäische Dimension zu betonen. Die Metropole Preußens wurde seit dem 18. März 1848 nicht nur zur informellen Hauptstadt Deutschlands. Sie gehörte überdies neben Paris und Wien zu den europäischen Revolutionsmetropolen. Die Erinnerung an Berlin 1848 wachzuhalten, heißt deshalb auch: an den zentralen Grundstein der deutschen wie der europäischen Demokratie zu erinnern.
Literatur
Clark, Christopher: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt, München 2023.
Czihak, Hans: Kampf um die Ausgestaltung des Friedhofes der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain, in: Berliner Geschichte 9/1988, S. 24–33.
Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen, kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. I: Triumph, 2. Halbband: 1935–1938, München 1965.
Erdödy, Gábor: Revolutionserbe und nationale Selbstbehauptung in Ungarn, in: Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Die Revolution von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München 2000, S. 155–178.
Hachtmann, Rüdiger: Wandel und Kontinuität. Zum Revolutionsbegriff in der europäischen Revolution von 1848/49, in: Rill, Bernd (Hrsg.): 1848. Epochenjahr für Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland, München 1998, S. 91–117, URL: https://zeitgeschichte-digital.de [eingesehen am 29.12.2024].
Hachtmann, Rüdiger: Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997.
Hachtmann, Rüdiger: Die Hauptstädte in der europäischen Revolution von 1848, in: Dowe, Dieter/ Haupt, Heinz-Gerhard/Langewiesche, Dieter (Hrsg.): Europa 1848, Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 455–491, URL: https://zeitgeschichte-digital.de [eingesehen am 29.12.2024].
Hachtmann, Rüdiger: Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Geschichte der Revolution von 1848/49, Tübingen 2002.
Hachtmann, Rüdiger: 1848. Revolution in Berlin, Berlin 2022.
Hachtmann, Rüdiger: Eine „transkontinentale Lawine“ – Rezensionsessay zu neueren Publikationen über die Revolution von 1848/49, erscheint in: Arbeit – Bewegung – Geschichte, Jg. 24 (2025), H. 1, S. 52–75.
Häusler, Wolfgang: Der kroatisch-ungarische Konflikt von 1848 und die Krise der Habsburgermonarchie, in: Kropf, Rudolf (Hrsg.): Die Revolution von 1848/49 im ungarisch-österreichischen Grenzraum, Eisenstadt 1996, S. 5–19.
Klemm, Claudia: Erinnert – umstritten – gefeiert. Die Revolution von 1848/49 in der deutschen Geschichtskultur, Göttingen 2007.
Reichstag (Hg.): Stenografische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. IX. Legislaturperiode, V. Session, 1897/98, Bd. 2, Berlin 1898.
Varnhagen von Ense, Karl August, Tagebücher, Bd. 7, hg. aus dem Nachlass von Ludmilla Assing, Leipzig 1862.
Wollstein, Günther: Das „Großdeutschland“ der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977.